Mehr Zeit für Relations? Einsatz von Künstlicher Intelligenz im IR-Arbeitsalltag.
14. Mai 2025
Die größten drei Herausforderungen für den IR-Manager im zukünftigen Alltag
1. Die Polykrise ist das neue Normal
Es gab selten so viele strategische Themen auf einmal. Die Schnelllebigkeit, Vielfältigkeit und Komplexität der Ereignisse, die es zu verarbeiten gilt, sind so breit, wie selten zuvor. Hier eine kleine Auswahl: Seit einigen Wochen ist unsere Welt eine andere und die internationale Gemeinschaft zeigt sich immer noch mehr als irritiert über die Vorgänge im Oval Office. Europa hat erkannt: Es muss sich unabhängiger aufstellen und eine stabile strategische Eigenständigkeit entwickeln. Andererseits werden die Kapitalmärkte in einer sich dramatisch verändernden Welt von Zöllen, Invasionsdrohungen und gigantischen Schulden volatiler. Auch die Gefahr militärischer Konflikte in vielen Regionen der Welt mit weitreichenden wirtschaftlichen Auswirkungen nimmt weiter zu.
Geopolitische Krisen, Lieferkettenprobleme und Ressourcenknappheit erfordern von Emittenten eine schnelle Reaktion auf die vielen „Breaking News“ und noch mehr als bisher Transparenz in der Finanzkommunikation. Unternehmen, die Risiken nicht offenlegen, riskieren das Vertrauen von Investoren. Um diese grösser werdende Welle an Themen zu bedienen, wird die (digitale) Interaktion mit den Stakeholdern wichtiger, damit diese sich auch in Krisenzeiten gut abgeholt fühlen. Die eigene Kapitalmarkt-Story wird in flexiblen Formaten in einer zunehmenden Anzahl von Kanälen auch für jüngere Zielgruppen stattfinden müssen.
2. Der Generationenwechsel kommt
Die Generation T-Aktie, die im Retail-Bereich Mitte der 90er Jahre bis heute die Art und Weise der Investor Relations Arbeit mitgeprägt hat, befindet sich im Herbst des Lebens und wird große Teile der Depots an die Enkelgeneration weitergeben. Und die hat während der Corona-Zeit viel gelernt. Die sogenannte Gen Z wird als Investorengruppe relevanter und informiert sich über Finfluencer auf Social Media. Diese Generation wird selbstverständlich als Berufsgruppe auch in die Finanzbranche drängen und den Umgang von Corporates mit institutionellen Investoren neu gestalten. IR muss Inhalte auf diese neuen Formate zuschneiden und anpassen, um diese Zielgruppen besser oder überhaupt zu erreichen. Die Konzeption der Digitalstrategie und Benutzererfahrung entscheiden unabhängig vom Endgerät über erfolgreiche IR-Kommunikation.
Und einen weiteren zukunftsprägenden Vorteil wird die Generation Z mitbringen: den unbefangenen, gelernten Umgang mit künstlicher Intelligenz (KI)!
3. KI auf dem Vormarsch
KI ist seit dem berühmten ChatGPT-Moment auf dem Vormarsch und wird alles verändern. Besonders durch Automatisierung, datengetriebene Analysen und effizientere Kommunikation spielt KI ihre Vorteile aus. Sie wird zunehmend zur Schlüsseltechnologie für IR. KI ist eine Revolution und wird nicht wieder verschwinden. Es ist anzunehmen, dass wir die aktuelle Berufswelt der Kapitalmärkte in fünf Jahren nicht mehr wiedererkennen werden.
Muss der Mensch Angst vor den Maschinen haben?
Die dystopische Angst vor dem drohenden Untergang der Menschheit ist verständlich, aber unbegründet. Daran hat niemand Interesse. Der Mensch hat Maschinen schon immer für seine eigenen Zwecke entwickelt und angepasst. Die Maschine ist und bleibt unser Sparringspartner oder Assistent, den wir steuern und für unsere (Produktivitäts-)Zwecke einsetzen. Nun stellt sich jedoch die Frage, ob wir (aus lauter Bequemlichkeit) einfach der Logik ihrer Algorithmen folgen werden. Richtig eingesetzt wird künstliche Intelligenz sowohl die Qualität als auch die Produktivität unserer Arbeit in noch nie gekannte Höhen treiben, das zeigt u.a. die jüngste Umfrage der Berater von Deloitte.
Was müssen wir also tun, um die Potenziale künstlicher Intelligenz nutzen zu können?
Zunächst einmal sollte man sich der Fremdheit schrittweise anpassen. KI-Tools schießen derzeit wie Pilze aus dem Boden. Der Versuch diese Tools zu erfassen oder zu katalogisieren wird ins Leere führen. Ein Ansatz könnte sein, genau zu beobachten, an welchen Stellen KI im IR-Alltag schon eingesetzt wird. Hier bieten sich vier Kategorien an, um bisherige Anwendungsfälle und Lösungen nach Aufwand und Nutzen einzusortieren.

Die Kategorie Frontend und Features umfasst KI-Lösungen, die auf frei zugänglichen Webseiten eingebunden sind und auf KI-Basis meistens nur einen bestimmten Zweck erfüllen. Beispiele dafür sind die „AI summary“ in den Suchergebnissen auf siemens.com oder die IBM Watson Basis des DHL IR ChatBot unter group.dhl.com. Der Aufwand in diesen Einzelprojekten ist eher überschaubar, der Nutzen zeigt sich dann in Abrufzahlen.
Dort schließt sich die zweite Kategorie Backend and Analytics an. Hier sind es nicht mehr einzelne Features, die eingebunden werden, sondern komplette Plattformen die oft als Gesamtprodukt einer Softwarefirma angeboten werden. Weit verbreitet sind die Analytics Software matomo oder die KI Software LeadInfo. Letztere löst datenschutzkonform IP-Adressen auf und zeigt das Surf-Verhalten von Nutzern, z.B. Analystenhäusern. Alphasense geht hier einen Schritt weiter: Die Software durchsucht und analysiert nicht nur Berichte, Nachrichten und Research-Dokumente, sondern bietet auch fortschrittliche Funktionen zur Auswertung von Earnings Calls und Analystengesprächen. Durch die Kombination von KI-gestützter Spracherkennung und semantischer Analyse identifiziert Alphasense zentrale Aussagen, Marktstimmungen und Trends in Echtzeit – und liefert wertvolle Einblicke für Investoren, Analysten und Unternehmensentscheider.
Den größten Nutzen verspricht der Einsatz künstlicher Intelligenz jedoch im eigenen internen Arbeitsumfeld. Microsoft hat hier mit dem Office365-Spielfeld den größten Vorsprung. Zentraler Baustein ist der MS Copilot, der (ähnlich wie ChatGPT) in der Lage ist, Sprache zu verstehen und im Dialog mit dem Anwender Ergebnisse liefert. Der effiziente Einsatz von sogenannten Prompts kann in Sekunden verschiedenste Datentöpfe im eigenen Office- und Sharepoint-Umfeld anzapfen und im Anschluss Analysen, Berichte oder Präsentationen aufbereiten, für die unter normalen Umständen Stunden oder sogar Tage ins Land gegangen wären. Hier entsteht also mehr Zeit für „Relations“ in IR. Die Programmierung von selbständigen Agenten, die Routinearbeiten erledigen oder beim Reporting unterstützen, ist mit einigem Aufwand verbunden. Der neuartige Umgang mit Agenten und Copiloten, nämlich über die Prompt-Zeile, muss allerdings von den meisten Benutzern erst erlernt werden. Der richtige Prompt und das Instruction-Set für den Agenten sind entscheidend für dessen Antwort- und Ausführungsqualität.
Die vierte Kategorie zeigt, wie mit überschaubaren Budgets, bereits beeindruckende Ergebnisse entstehen können und darüber hinaus tatsächlich allen oben genannten Herausforderung der modernen IR gerecht zu werden. Das IR-Team von SAP setzt auf KI-generierte Bewegtbilder, um die Equity Story zu erklären und schneller als bisher hochwertigen Content auf die Seite zu bringen.
Wie die Kapitalmarkt Story laufen lernt
Eine Equity- oder Kapitalmarktstory vermittelt wesentlich mehr als reine Finanzzahlen. Es geht ums Erklären, Kontext erzeugen und Perspektiven aufzeigen. Die Kunst dabei ist, teilweise trockenen Stoff in begreifbare Bilder und kausale Zusammenhänge zu bringen.
Die vielen Dimensionen einer Kapitalmarkstory gehen vom Wertschöpfungsansatz eines Unternehmens über den Markt und Wettbewerb zum Produktportfolio und schließlich zum Shareholder Value. Es muss alles zusammenpassen, da sonst kein glaubwürdiges Narrativ entsteht. Und Glaubwürdigkeit und Vertrauen sind nun mal die „harte Währung“ in Investor Relations.
Viele Unternehmen haben sogenannte „Investor-Decks“ in PowerPoint erstellt und bieten diese zum Download über ihre Webseite an. In der Regel strotzen diese vor Daten und zusätzliche Erklärungen beschränken sich in der Regel auf Bullets. Die Wahrnehmung beim Empfänger kann sehr unterschiedlich ausfallen, da der Sprechertext fehlt. Kein Unternehmen bietet sein Deck mit Speaker Notes an. Warum eigentlich? Das, was normalerweise zwischen Präsentierendem und Empfänger verbal vermittelt wird, geht vollkommen verloren.
Hier setzen die von SAP verwendeten Avatar-Videos an. Ähnlich wie beim Aufbau eines Foliensatzes in PowerPoint können z.B. mit der Plattform Synthesia.io Sequenzen und Szenen aufgebaut werden, in denen ein Avatar den Sprechtext lippensynchron spricht. Wenn sich eine Szene aufbaut und parallel dazu der Sprecher vermittelt, was zu sehen ist, wird der Erkenntnisgewinn deutlich größer als bei einer Folie mit Bullets. Am Ende werden die Sequenzen aneinandergereiht und zu einem Video exportiert.
Mittlerweile gibt es in der Plattform KI-Agenten, die sogar bei der automatisierten Erstellung eines solchen Videos unterstützen. Man lädt ein Skript oder eine Präsentation hoch, definiert Publikum, Inhalt und Sprechertyp sowie die Länge des geplanten Videos. Nach Auswahl eines Templates wird dann in wenigen Sekunden eine Strecke von Sequenzen vorgeschlagen, die man nur noch leicht anpassen muss. Alle Inhalte der hochgeladenen Datei werden dabei berücksichtigt und entsprechend der Struktur des Textes auf den „Folien“ platziert. Der Sprechertext ist dabei schon enthalten.
Die Anpassungen können den Avatar selbst (Mann, Frau, jung, älter, Ethnie, etc.) wie auch die Stimme und Sprache betreffen. Darüber hinaus kann man jede einzelne Sequenz, sehr ähnlich wie bei Folien in einem Slide-Deck, anpassen. Als weiteren Effizienzhebel kann man die automatisierte Übersetzung in viele Sprachen betrachten. Wenn eine Videosequenz erst einmal in einer Sprache aufgebaut ist, sind weitere Sprachversionen eine Sache von Minuten.
SAP war vor allem von der schnellen Änderungsfähigkeit und der ausgezeichneten Videoqualität überzeugt. Die Avatare werden zudem immer authentischer. Waren es vor einem Jahr hauptsächlich noch freigestellte „Headshots“, sind heute bereits Figuren in natürlichen Umgebungen und mit Körpersprache verfügbar, die auch die Emotionen in einem Text sehr glaubhaft darstellen.
Bei SAP sind die so erstellten Videos Teilsequenzen der Kapitalmarkstory, die auf der IR-Website präsentiert wird. Das macht diese zugänglicher, einfacher zu erfassen und auch für Besucher ohne große Kenntnisse des Unternehmens niedrigschwellig konsumierbar. Darüber hinaus können diese Videosequenzen einfach über Social Media geteilt werden und leiten Besucher von dort wieder auf die IR-Webseite. Eingebettet in einen digitalen Kommunikationsplan findet so eine kohärente Erzählung statt. Und durch den Einsatz von Lösungen mit künstlicher Intelligenz wird mit überschaubarem Aufwand an Kosten und Zeit eine neue Form des Präsentierens ermöglicht.
IR neu denken – mit KI, Mut und Haltung
Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz ist kein Zukunftsszenario mehr – er ist längst Teil des IR-Alltags. Wer KI in seiner Investor Relations Arbeit strategisch nutzt, gewinnt nicht nur mehr Zeit für das Wesentliche – nämlich den Beziehungsaufbau und Pflege mit präziser Kapitalmarktkommunikation – sondern setzt auch ein Zeichen: für Innovationskraft, für Offenheit gegenüber neuen Technologien und für ein IR-Selbstverständnis, das sich nicht in einer Berichtspflicht zurückliegender Zahlenkolonnen erschöpft. Gibt es eine Alternative?
Die aktuellen Herausforderungen der sprunghaften Geopolitik, der verjüngten Demographie an den Kapitalmärkten und einer rasanten digitalen Transformation werden uns noch lange begleiten. Und KI wird diese Themen keinesfalls lösen. Aber sie kann helfen, besser damit umzugehen: durch Automatisierung, bessere Analysen und Erkenntnisse oder neue Kommunikationsformate (wie die oben beschriebenen KI-generierten Videos, die komplexe Inhalte barriereärmer und verständlicher machen).
Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, Tools und Business Cases unbeschwert anzupacken, erste Erfahrungen zu sammeln und sich der Fremdheit schrittweise anzunähern. Jetzt ist noch Gelegenheit, um Dinge zu verstehen, Datentöpfe zu entdecken und Zusammenhängen auf den Grund zu gehen. Der Wettbewerb und die Geschwindigkeit, in der sich alles entwickelt, sind gigantisch. Wer weiß schon, wie lange wir noch Einblicke in Funktionsweisen, Methoden oder Schnittstellen bekommen dürfen. Wer früh beginnt, sich systematisch mit KI in all seinen Facetten auseinanderzusetzen, wird die eigene Rolle als Kommunikator, Analyst und Übersetzer zwischen Unternehmen, Investoren und Kapitalmarkt stärken. Der Wandel kann mitgestaltet werden. Denn IR bleibt auch in Zeiten von Algorithmen vor allem eines: ein höchst menschliches Beziehungsgeschäft.
Die Autoren
- Johannes Bürkle, SAP
- Thorsten Greiten, NetFederation